6. KONTROVERSEN

KONTROVERSEN

Die Ereignisse rund um die Kapitulation des Heeres und der Zivilbevölkerung in Bleiburg sowie deren Behandlung nach der Kapitulation beinhalten auch heute noch eine Reihe von Unbekannten und provozieren unterschiedliche und kontroverse Interpretationen. In diesem Zusammenhang kann man von mehreren Themenbereichen sprechen, die bis heute zu Unstimmigkeiten und geteilten Meinungen führen.

Angehörige der britischen Streitkräfte in Österreich, 1945

Das erste Thema betrifft das Vorgehen gegenüber den Truppen und Zivilisten, die sich der britischen Armee auf österreichischem Gebiet ergaben. Im öffentlichen Diskurs und auch in der Geschichtsschreibung ist oft die Behauptung zu hören, die Briten hätten sich aufgrund von Entscheidungen der jugoslawischen Armee zur Auslieferung dieser Gefangenen an die jugoslawische Armee aufgrund der Beschlüsse der Konferenz von Jalta (Februar 1945) gehalten. Auf der Konferenz wurde zwar eine Vereinbarung über die sogenannte Repatriierung aller Bürger der Sowjetunion getroffen, die gegen die sowjetische Regierung gekämpft hatten, aber von einer Vereinbarung oder einem Beschluss über die Repatriierung jugoslawischer Bürger an die neuen Behörden in Jugoslawien war keine Rede. Die verfügbaren Quellen und späteren Zeugenaussagen derjenigen, die an den Ereignissen im Mai 1945 teilnahmen, legen nahe, dass die Handlungen der Briten in erster Linie durch ihre langfristigen politischen Ziele und die aktuelle militärische Situation vor Ort bedingt waren. Beunruhigt über den Vormarsch der jugoslawischen Armee in Kärnten (und den Julischen Marsch oder Venezia Giulia; slowenisch und kroatisch: Julijska krajina) und deren mögliche Einnahme dieses Teils von Österreich (und Italien), entschieden die Briten, dass die Aufnahme einer großen Anzahl von Flüchtlingen aus Jugoslawien es erschweren würde, ihre Ziele zu erreichen. Auch gut begründete Zweifel an der Behandlung von Gefangenen durch die jugoslawische Armee konnten ihre Entscheidung nicht beeinflussen. Mit all dem im Hinterkopf wird klar, warum seit Jahrzehnten so viel über die Verantwortung britischer Politiker und militärischer Befehlshaber für den tragischen Ausgang diskutiert wird, der sich aus ihrer Entscheidung ergab, Gefangene, die sich ihnen ergeben hatten, an die Jugoslawen auszuliefern. Behält man diese Informationen im Hinterkopf, wird klar, warum seit Jahrzehnten viel über die Verantwortung für den tragischen Ausgang diskutiert wird, die sich aus der Entscheidung britischer Politiker und militärischen Befehlshaber ergab, Gefangene die sich bereits ihnen ergeben hatten, an die Jugoslawen auszuliefern.

 

Das zweite Thema betrifft die Frage, warum die jugoslawische Armee diese Gefangenen so brutal behandelte, sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Repressalien gegen Angehörige der besiegten Streitkräfte und Kollaborateure fanden in ganz Europa statt, aber in Bezug auf die schiere Anzahl der Opfer und die Art und Weise, wie sie getötet wurden, ist der jugoslawische Fall unvergleichlich.

 

Gefangene unter der Aufsicht von Soldaten der jugoslawischen Armee

Nach einer Interpretation war diese Brutalität eine Reaktion auf die massenhaften Gräueltaten, die während des Krieges von Angehörigen der besiegten Kräfte, insbesondere der Ustaše und der Tschetniks, begangen wurden. Doch obwohl diese Gräueltaten sicherlich begangen wurden, waren die Handlungen der jugoslawischen Armee völlig unvereinbar mit den Bestimmungen der Haager Konventionen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (1907) und der Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929, die auch für das Demokratische Bundesjugoslawien galt.

Eine andere Interpretation berücksichtigt die Tatsache, dass Angehörige der besiegten Streitkräfte am Ende des Krieges bereit waren, sich den westlichen Alliierten in einem neuen Krieg gegen die Kommunisten zur Verfügung zu stellen. Außerdem war das neue Regime auch ohne einen neuen Krieg besorgt über die Aussicht, dass so viele seiner ideologischen Gegner und Feinde nach Jugoslawien zurückkehren würden.

In kroatischen Emigrantenkreisen konnte man auch die Meinung hören, dass nach der Kapitulation in Bleiburg ein Völkermord am kroatischen Volk verübt wurde. Die Völkermordthese ist – jedoch ungeachtet der schrecklichen Todesopfer – unhaltbar. Die Gefangenen wurden nicht ermordet, weil sie ethnische Kroaten waren, sondern weil sie als Feinde und Kriminelle angesehen wurden. Außerdem bestand eine große Anzahl von Einheiten der jugoslawischen Armee, sowohl deren Kommandeure als auch die regulären Soldaten, selbst jene, die an den Exekutionen teilnahmen, ebenfalls aus ethnischen Kroaten. Die Tatsache, dass die meisten Opfer ethnische Kroaten waren, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es so viele kroatische Gefangene gab.

Das dritte Thema, das die größte Anzahl an unbekannten Fakten und Kontroversen mit sich bringt, betrifft die Anzahl derer, die nach der Kapitulation in Bleiburg getötet wurden. Bereits ab Mai 1945 gibt es verschiedene Berechnungen über die Anzahl der Menschen in den Flüchtlingskolonnen und dann auch über die Anzahl der Opfer. Die Zahlen variieren je nach Herkunft der Quelle, wobei die höchsten Zahlen von ethnischen Kroaten genannt werden, denen die Flucht gelang oder die die Auslieferung an die jugoslawische Armee überlebten und dann auswanderten und im Ausland lebten, während die niedrigsten Zahlen von ehemaligen Kommandanten der jugoslawischen Armee stammen. Man sollte anmerken, dass im sozialistischen Jugoslawien dieses ganze Thema nie in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, keine Anstrengungen unternommen wurden, die Grabstätten aufzudecken, und keine historiographischen oder demographischen Studien auf der Grundlage vorhandener Archivdokumente, statistischer Daten, Volkszählungen und dergleichen durchgeführt wurden.

 

Soldaten und Zivilisten im Feld bei Bleiburg

Die ersten wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema erschienen Mitte der 1980er Jahre, mit Bogoljub Kočović und Vladimir Žerjavić als den beiden prominentesten Autoren. Das Interesse an diesem Thema nahm nach dem Aufkommen der Demokratie und dem Zerfall Jugoslawiens zu, als eine Reihe von Forschungsprojekten initiiert wurde, die die Fakten über Bleiburg und die verschiedenen “Kreuzwege” zu ermitteln versuchten und dabei auch die Zahl der Opfer einschlossen. Die bisher umfangreichste und umfassendste Arbeit zum Thema stammt von der Historikerin Martina Grahek Ravančić. Aufgrund des Mangels an historischen Quellen und des Zeitablaufs wird die genaue Zahl der Flüchtlinge und Opfer nie genau bestimmt werden können. Eine der Kontroversen, die im öffentlichen Diskurs oft zu hören sind, betrifft die Zahl der Getöteten auf dem Feld in Bleiburg selbst. Richtig ist, dass es auf dem Feld selbst keine Massenexekutionen gab, aber die Verwirrung, die die Kapitulation begleitete, führte zu bewaffneten Scharmützeln, bei denen Angehörige der jugoslawischen Armee mehrere Dutzend Menschen töteten.

Was die Massenexekutionen beim Einmarsch der Gefangenen von Österreich nach Jugoslawien betrifft, so werden in kroatischen Emigrantenkreisen Zahlen von bis zu 500.000 (meist ethnische Kroaten) genannt, was nach allen verfügbaren Daten eine stark übertriebene Zahl ist. Ehemalige Befehlshaber der jugoslawischen Streitkräfte und Teilnehmer an diesen konkreten Ereignissen hingegen ignorieren in ihren Erinnerungen entweder das Thema der Massenexekutionen oder versuchen, die Zahlen auf einige Tausend die bei den letzten militärischen Operationen im Mai 1945 ermordet oder getötet wurden, zu reduzieren.

Die bisher genaueste Einschätzung ist wohl die von Vladimir Žerjavić, der schätzt, dass sich im Mai 1945 rund 80.000 Soldaten und etwa 45.000 Zivilisten in Bleiburg im Feld befanden. Dazu kommen noch die etwa 30.000 ethnischen Kroaten, Slowenen und Serben, die im britischen Kriegsgefangenenlager Viktring bei Klagenfurt interniert waren. Demnach kamen bei den Erschießungen nach dem 15. Mai insgesamt etwa 70.000 Menschen ums Leben, darunter 60.000 ethnische Kroaten (etwa 50.000 Soldaten und bis zu 10.000 Zivilisten), etwa 10.000 ethnische Slowenen und etwa 2.000 Montenegriner und Serben. Martina Grahek Ravančić akzeptiert Žerjavićs Schätzung als gültigen Ausgangspunkt, ergänzt sie aber durch neuere Erkenntnisse vor Ort, so dass die Gesamtzahl der Opfer zwischen 80.000 und 90.000 liegt.

Lassen Sie uns vernetzen

Verbinden Sie sich mit uns über die sozialen Netzwerke